Sachgerecht und fair Verhandeln: 5. Phase 3: Interessen klären

In Phase 3 werden die hinter den Konfliktthemen verborgenen Ursachen besprochen. Die Ursachen sind Grundlage für die spätere Suche nach geeigneten Lösungen.
Jede Partei erhält Gelegenheit, die Hintergründe für den Konflikt aufzuzeigen. Wenn eine Partei erkennt, dass die eigene Sichtweise der Konfliktursachen von der anderen Seite verstanden wurde, steigt im Allgemeinen die Bereitschaft, sich ebenfalls auf die Sichtweise der Gegenseite einzulassen.
Beispiel für die Anmoderation:
„In der letzten Phase haben Sie aufgezeigt, was Sie stört. Wir haben eine
Rangfolge der Konfliktthemen vereinbart, die wir hier bearbeiten wollen.
Wenn Menschen streiten, ist häufig unklar, warum bestimmte Forderungen
hartnäckig vertreten werden und wann jemand bereit ist, Lösungen
mitzutragen. Wir gehen deshalb jetzt einen Schritt weiter, in dem wir die
Hintergründe der offenen Themen, die Sie besprechen wollen, näher
beleuchten.“
Klären Sie die Ursachen für das Thema, dass Sie vorrangig behandeln wollen.
Beispiel für die Anmoderation:
„Wir starten mit dem ersten Thema, dass wir in der letzten Phase
ausgewählt haben.
Lassen Sie uns, bevor wir zu den Ursachen kommen, kurz die Problematik
zusammenfassen.
Ich halte die wesentlichen Aspekte schriftlich fest.“
Besprechen Sie die folgenden Fragen und halten Sie Gruppenergebnisse z.B. am Flipchart fest.
- Wie lautet das Konfliktthema, das hier vorrangig bearbeitet werden soll?
Thema: WKWE (Wie können wir erreichen…), dass… - Wie stellt sich die Situation heute dar? Welche unterschiedlichen Positionen werden vertreten?
- Welche Auswirkungen sind damit verbunden?
- Welche Ursachen bzw. tieferliegenden Beweggründe spielen bei dem Konflikt für Sie eine entscheidende Rolle?
Beispiel für die Anmoderation:
„Zu den Ursachen:
• Warum ist das Problem noch nicht gelöst?
• Welche Ursachen sind bekannt bzw. werden vermutet?
• Welche Ursachen sehen Sie beispielhaft in den Beziehungen zwischen
den Parteien, in fehlenden Ressourcen, fehlenden
Rahmenbedingungen?
Stimmen Sie sich bitte kurz mit Ihren Kollegen – getrennt nach Parteien –
darüber ab, welche zwei bis drei Ursachen für Sie von zentraler Bedeutung
für Ihren Konflikt sind.“
Hinweis: Geben Sie den Parteien einige Minuten Zeit für ihre interne Diskussion. Bitten Sie einen Vertreter der jeweiligen Partei das Ergebnis im Plenum zu präsentieren. Klären Sie ggf. Verständnisfragen (ohne inhaltliche Diskussion) und halten Sie die genannten Ursachen getrennt nach Parteien auf dem Flipchart fest.
Vertiefen Sie die Ergebnisse im Plenum:
- Was fällt auf, wenn Sie die genannten Konfliktursachen betrachten?
- Worüber haben Sie sich ggf. besonders geärgert? Weshalb? Was stört, ärgert Sie vor allem an der bisherigen Situation, am Verhalten der anderen Partei?
- Weshalb kam es in der Vergangenheit zu keiner Einigung? Weshalb konnten Sie bisherige Lösungsvorschläge, sofern esdiese gegeben haben sollte, nicht akzeptieren?
- Welche Interessen sind für den Konflikt maßgeblich?
Beispiel für die Anmoderation:
„Das Verständnis von Interessen, die hinter einem Konflikt stehen, ist für die
meisten Verhandlungslösungen von zentraler Bedeutung. Konflikte sind
vordergründig durch widersprüchliche Positionen gekennzeichnet (z.B. Soll
ein Bürofenster geschlossen bleiben oder geöffnet werden?).
Positionen fragen nach dem „was“ (welches Ergebnis jemand konkret
anstrebt, z.B. ein offenes Fenster, und im Widerspruch zur Position des
Gegenübers, ein geschlossenes Fenster, steht).
Interessen fragen nach dem „warum“ einer bestimmten Forderung: „Wozu
bzw. aus welchen Gründen wird eine bestimmte Position vertreten?“
Worum geht es Ihnen eigentlich?“
Was heißt das für unser Beispiel mit dem Bürofenster? Erst wenn die
Kollegen sich über die hinter den Positionen stehenden Beweggründe
austauschen, können sich kreative Lösungen ergeben. So hat ein Mitarbeiter
das Bedürfnis nach frischer Luft, um konzentriert arbeiten zu können; der
andere befürchtet gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Zugluft. Die
Lösung, die beiden Interessen gerecht wird, könnte darin bestehen, z.B. im
Nebenraum zugluftfrei die Fenster zu öffnen.
Hinter den Positionen verbergen sich persönliche Anliegen (Interessen).
Interessen motivieren die Menschen; sie sind die Beweggründe hinter den
widersprüchlichen Positionen. Unterschiedliche Interessen sind leichter
unter einen Hut zu bringen als unterschiedliche Positionen. Durch
Offenlegung von Interessen gehen die Verhandlungspartner auf eine höhere
Reflektionsebene und können von dieser Ebene aus verschiedene Optionen
entwickeln, die die Interessen beider Seiten zufriedenstellen.
Eine Position ist die bewusste Entscheidung für einen Standpunkt, die
Interessen sind die Beweggründe/Motive, die diese Entscheidung veranlasst
haben. Ein anderes Beispiel: Ein Einkäufer formuliert die Forderung: „Entweder
Sie reduzieren Ihren Preis oder wir müssen einen anderen Lieferanten
beauftragen“.
Warum bezieht es diese Position? Welche Interessen verfolgt er?
Vielleicht ist ihm die Abhängigkeit vom bisherigen Lieferanten zu groß
geworden. Möglicherweise verfolgt er ein übergeordnetes
Unternehmensziel (z.B. den Marktanteil durch eine Preisoffensive zu
erhöhen).“
„Erkunden Sie als Konfliktpartei also immer auch die Interessen hinter den
Positionen der Gegenseite.
In Konfliktsituationen sollten Sie generell nicht Positionen, sondern Interessen
in den Mittelpunkt stellen.
Das ist die zweite Kernforderung des Harvard-Konzepts: „Nicht Positionen,
sondern Interessen sollten im Mittelpunkt der Verhandlung stehen!“
Wie bereits früher gesagt, geht es uns ja nicht darum, zu fragen, wer schuld an
Problemen in der Vergangenheit war, sondern Lösungen für die Zukunft zu
finden.
Wenn wir über Ihre Interessen sprechen, ist es wichtig, dass Sie zunächst alle
Gedanken an Lösungen zurückstellen.
Erst wenn wir Ihre wesentlichen Interessen kennen, können wir kreative
Lösungen identifizieren, die die Interessen beider Seiten befriedigen und
spätere Lösungsansätze daraufhin überprüfen, ob sie diesen Interessen gerecht werden.
Ich werde die verschiedenen Interessen bzw. Anliegen der Parteien am
Flipchart übersichtlich darstellen, für jede Seite getrennt. Dies schafft größere
Klarheit und mehr Verständnis.
Wir werden erneut so vorgehen, dass wir zunächst mit einer Partei beginnen
und, nachdem für diese Partei alle Interessen erfasst sind (an der Pinwand
oder am Flipchart für jede Partei getrennt), die andere Partei zum Zuge
kommt.
Fragen Sie sich jetzt, weshalb bzw. aus welchen Gründen Sie Ihre Position
vertreten bzw. welches Interesse (eigentliche Anliegen, grundlegende
Bedürfnis) Sie bewegt?
Wer möchte beginnen? Ich werde die Interessen der jeweiligen Partei
zuordnen.“
Setzen Sie die Visualisierung mit der Erfassung der Interessen fort.
Fragen Sie ggf. zum besseren Verständnis nach:
„Warum ist das ein wichtiges Anliegen für Sie? Welche Interessen sind für Sie von besonderer Bedeutung?
Fragen an die jeweils andere Seite: „Sie haben jetzt gehört, welche Interessen Ihr Verhandlungspartner hat und wie er die Verhandlungssituation einschätzt.
- Sind Ihnen die Sichtweisen der anderen Partei klar geworden? Sie müssen diese nicht billigen, nur verstehen. Können Sie das Gesagte nachvollziehen?
- Was fällt auf? Was an der Liste überrascht Sie?
- Was fehlt aus Ihrer Sicht ggf.?
- Wo sehen Sie Übereinstimmungen? Wo Unterschiede?
- Welche Interessen sind besonders wichtig und sollten im Zusammenhang mit Lösungen vor allem beachtet werden?
Wenn wir diesen Schritt getan haben, könnte sich möglicherweise zeigen, dass wir von Ihren Interessen her in höherem Maße übereinstimmen als zunächst gedacht, und dass die Unterschiede sich demgegenüber relativieren. Auf dieser Basis lassen sich vielleicht einvernehmliche Lösungen finden, die die Interessen beider Seiten befriedigen und für alle annehmbar sind.“
Hinweis: Präzisieren Sie die Formulierungen zu den Interessen, falls sich
durch die Diskussion neue Gesichtspunkte ergeben.
Zusammenfassung:
„Wir haben jetzt ein vertieftes Verständnis entwickelt für die Beweggründe, die für Ihren Konflikt verantwortlich sind.
Damit haben wir eine wesentliche Grundlage geschaffen für die Suche nach
Lösungen, die diesen Anliegen Rechnung tragen.
Dies ist unsere Aufgabe in der 4. Phase.“
Zu Teil 6: Phase 4: Objektive Kriterien vereinbaren und Optionen ableiten
© Prof.Dr.Merk
Kontakt: merk@t-pu.de